Christoph Schaden / Small Worlds
Aus dem Katalogtext von Christoph Schaden: das Bild; eine Küste, in: Thomas Wrede, strange paradise, Bielefeld 2005

Christoph Schaden

Small Worlds

Aus dem Katalogtext von Christoph Schaden:
das Bild; eine Küste, in: Thomas Wrede, strange paradise, Bielefeld 2005

Der Auftakt dieses Bandes bildet die Serie "Small Worlds", die zugleich den Beginn der dritten Werkphase von Thomas Wrede markiert. Vordergründig bedeutet die zwischen 2001 und 2005 entstandene Serie eine Abkehr von der dokumentarisch geleiteten Vorgehensweise der "Magic Worlds"- und "Domestic Landscapes"-Arbeiten. In ihrer kompositorischen Simplizität, ihrer farblichen Präsenz und ihrer stringenten Unschärfe thematisieren die Bilder offenkundig weniger die fokussierten Objekte als vielmehr die Bedingungen ihrer Bildlichkeit. Als rahmenlose Flächen entfalten die Wandarbeiten in der Wirkung zunächst ein Höchstmaß an Präsenz, die sprachlos daherkommt. Dass ihnen ein bildimmanenter Diskurs eigen ist, artikuliert sich im Serientitel, der bewusst eine falsche Wahrnehmungsfährte legt. Denn es handelt sich keineswegs um Aufnahmen von Spielzeugwaren, wie man vielleicht vermuten könnte.

Das Schiff ist ein Schiff, heißt beispielhaft eine überraschende tautologische Seherkenntnis, weil Thomas Wrede einmal mehr das vermeintlich Reale auf den Plan ruft. Mit dem Verfremdungseffekt der Unschärferelation evoziert er wohl kalkuliert im Sehprozess eine Ungewissheit, um dennoch die funktionale Identifizierung der Objekte zu ermöglichen (etwa "Queen Mary"). Seine Aufnahmen von einzelnen Mobilen, die isoliert in einer freien Außenlandschaft verortet sind, balancieren infolge der Unschärfe denn auch auf einem sehr schmalen Grad des Erkennens, in dem die reine Bildanschauung gegen den Eigencharakter des fotografischen Abbilds gewendet wird. In der Rezeption äußert er sich in dem affirmativen Zeigereflex, der in den Resten des Authentischen noch den Beweischarakter des abgelichteten Objekts einfordert. Ja, da ist ein Schiff, mag man mit kindlichem Trotz sagen. In ihrer ästhetischen Versiertheit verharren die Bilder von "Small Worlds" gleichwohl in merkwürdiger Schwebe.

Christoph Schaden
Wir wissen nicht. Katalog: Manhattan/Picture Worlds

WIR WISSEN NICHT.

Christoph Schaden

"Sechzig Meter hoch. Jeder Buchstabe achtundzwanzig Meter groß. Der einzelne Strich drei Meter breit. Grellfeuerrot. WIR WISSEN NICHT... Die Menge steht unten, staut sich, staunt. Was bedeutet: WIR WISSEN NICHT? Kein Name, keine Ware, kein Theaterstück, weder eine Zigarette noch eine Schuhwichse ist damit gemeint. WIR WISSEN NICHT, das gibt zu denken und zu träumen. Männer bleiben mitten im Wagentrubel stehen und lassen sich sinnend überfahren. Gelehrte ziehen ihr Notizbuch und berechnen etwas. Frauen, erschüttert von diesem Ursatz, werfen sich an die Brust unbekannter Männer, bitten sie um Schutz und küssen sie wild...“

Als spektakuläre Aktion eines Einzelgängers beschrieb der französische Romancier Iwan Goll in seinem Großstadtroman Die Eurokokke das Ende der Erkenntnis. Ein namenloser Menschenfreund hatte im Zentrum von Paris ein überdimensionales Plakat anbringen lassen, bei dem es sich statistischen Forschungen zufolge angeblich um die größte Leuchtreklame von Europa handeln sollte. In Abhebung zu den anderen öffentlichen Werbeflächen der Metropole, an denen marktschreierisch die „Illusionen der Kultur“ angepriesen wurden, beschränkte der Anonymus seine Botschaft jedoch auf einen Dreiwortsatz: WIR WISSEN NICHT. Die Reaktionen auf sein nihilistisches Mini-Manifest fielen nicht nur bei dem umher flanierenden Massenpublikum drastisch aus. Mit seiner Verzweiflungstat hatte sich der Initiator selbst in den finanziellen Ruin getrieben; fortan musste er als Zeitungsverkäufer seinen Lebensunterhalt verdienen und, wie die Geschichte weiter erzählt, eben jene Unwahrheiten kolportieren, „gegen die er mit seinem Plakat kämpfen wollte.“

Heute wissen wir: Der Kampf ist längst verloren. Im Rückblick erscheint das skizzierte Schreckensszenario, das bereits im Jahre 1927 publiziert wurde, wie ein bitteres Fanal eines surrealistischen Schriftstellers, in dem sich ein Individuum in einem letztem verzweifelten Aufschrei einer Warenwelt zu erwehren versucht, deren verheißende Werbebotschaften längst Teil unseres kollektiven Seins und Bewusstseins geworden sind. WIR HABEN VERSTANDEN, mögen wir denn auch reflexartig entgegnen und zugleich einen der erfolgreichsten Slogans rezitieren, der in den 1990er Jahren in Deutschland für den Automobilkonzern Opel entwickelt wurde und hierzulande noch stets in den Köpfen spukt. Auch der optische Gigantismus der Plakatfläche und deren zentrale Platzierung im Stadtraum entsprechen heute wohl weniger dystopischen Endzeitvisionen als vielmehr den vorherrschenden Marktstrategien, mit denen zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Großflächenplakat der Machtanspruch globaler Konzerne in die Innenstädte getragen wird. Zweifellos ist Iwan Golls denkwürdige Fiktion längst von der Wirklichkeit überholt worden. Dennoch kann man trefflich darüber räsonieren, inwieweit die Aussage WIR WISSEN NICHT nicht nur für erkenntnistheoretische und systemkritische Fragestellungen von Belang ist, sondern auch konkret auf dasjenige Medium bezogen werden kann, das diese Behauptung so wirkungsvoll zu transportieren vermag. Mit anderen Worten: Was wissen wir tatsächlich über das Großflächenplakat, über jenes optische Werbemittel, das als einziges Bildmedium in den öffentlichen Raum vorgedrungen ist?

MARKT DES BLICKES

In der Tat ist die Diskussion weiterhin kontrovers, welche Funktion, Wirksamkeit und Bedeutung Großplakatflächen im Kontext der visuellen Werbung heute zugeschrieben werden können. Unbestritten nimmt das Plakat als unbewegliche Bildfläche eine Sonderstellung ein. Im Medienverbund stellt es dem Kunstsoziologen Walter Grasskamp zufolge einen fast schon „peinlichen Anachronismus“ dar, zugleich wird dem Großflächenplakat aber eine hohe, zuweilen übertrieben anmutende Wirkungskraft attestiert. Die Rede ist gar von einem „Zentralorgan der Bewusstseinsindustrie“. Unter den Werbetreibenden selbst mag das Großplakat weiterhin gar als Königsdisziplin gelten. Solche Schwierigkeiten bei der Einschätzung resultieren zweifellos aus empirischen Ungeklärtheiten innerhalb der Werbewirkungsforschung, aber auch aus den spezifischen medialen Eigenschaften. Denn neben dem appellativem Charakter (kauf mich!) ist dem Plakat als einzigem Werbemedium der Drang nach der Beherrschbarkeit des öffentlichen Raumes eigen. Plakatbild prallt auf Realraum, der Realraum wird wiederum durchsetzt von Plakatbildern. Es handelt sich hierbei um eine Transformation, die sich keineswegs, wie der Schweizer Medientheoretiker Beat Wyss anmerkt, in einem Konsumappell erschöpft. „Wer bei der bewussten, inhaltlichen Botschaft eines Plakats stehen bleibt, es streng ikonografisch betrachtet, versteht den Sinn der Werbung nicht. ...Der Werbezweck besteht darin, das Konsumklima als Trancezustand gesellschaftlich aufrechtzuerhalten.“

Vor allem in den Weltmetropolen der kapitalistischen Märkte wird dieser manipulierende Akt alltäglich Wirklichkeit. Seine Wirkungsweise ist evident und immergleich, denn schließlich geht es darum, wie Paul Virillio einmal darlegte, mit Hilfe des Geschäfts mit der Wahrnehmung einen regelrechten Markt des Blickes zu schaffen, der weit über die klassische Werbekampagne eines Unternehmens hinausgeht. So banal diese Absicht vielleicht anmutet, so folgenreich ist der zugrunde liegende Mechanismus. Zunächst provoziert ein einzelnes Werbebild, das gezielt auf den Affekt des Betrachters hin konzipiert worden ist, mit allen verfügbaren Mitteln unsere Aufmerksamkeit. Im Sog umgebender Werbemedien will die Stimulation sodann als wohlige Redundanz erfahren werden. Mit der Zeit verschwinden also die einzelnen Bilder und das Leben gerät im großstädtischen Gefüge zum Never-Ending-Spot. Dabei transformiert der öffentliche Raum unweigerlich zur suggestiven Folie von Versprechungen, Wünschen und Projektionen. Er mutiert selbst zum Straßenbild.

DOMESTIC LANDSCAPES

Wer mit fotografischen Bildern agiert, um jene Außenbilder der Werbung in ein dokumentarisches Visier zu nehmen, setzt sich fast zwangsläufig der Gefahr aus, von der Suggestion seiner Objekte okkupiert zu werden. Dies gilt umso mehr, wenn ausgerechnet diejenige Metropole ins Blickfeld gerät, die im 20. Jahrhundert sowohl zum Signum der Moderne und als auch zum unbestrittenen Mekka der Werbewelt avancieren konnte. Gerade im Falle von New York, der Urmutter aller Megacities, die ihr kulturelles Stadtimage seit Jahrzehnten aus dem gigantischen Patchwork von Werbeflächen um den Times Square in Manhattan rekurriert, scheinen bildkünstlerische Distanzierungsstrategien angebracht. Zumal es sich bei der Metropole um einen Nukleus handelt, der wie kein anderer zum Sinnbild urbaner Prosperität aufsteigen konnte und auf dem Markt des Blickes bis heute die ultimative Schnittstelle zwischen High & Low markiert. Das Kalkül des Marktes ist auch hier nur allzu deutlich: Das hybride Stadtbild will im Falle von New York keineswegs verstanden, sondern vielmehr tranceartig erlebt werden.

Die Werkserie Manhattan Picture Worlds, die Thomas Wrede in einem Zeitraum von 2003 bis 2008 realisiert hat, verzichtet denn auch weitgehend auf Momente räumlicher Distanzierung. Stattdessen zollt die Bilderfolge bewusst einer physischen Erfahrung Tribut, in der längst alles zum Bild geworden ist. Konsequenterweise basiert das Projekt auf einer einzelnen Bildarbeit der Serie Domestic Landscapes, die Thomas Wrede im Schicksalsjahr 2001 in einer renommierten Kunstgalerie im Zentrum von New York ausstellte. Hierbei handelt es sich um die hochformatige Farbaufnahme einer Fototapete, die den Blick auf die nächtliche Skyline von Manhattan freigibt und zugleich in einem realen Wohnraum in Deutschland zurückverankert ist, der in seinem Interieur wiederum eine zutiefst ambivalente Behaglichkeit ausstrahlt. Sichtbar verzahnt sind in der Aufnahme all die polaren Bezugsgrößen, die wie in einem dialektischen Vexierspiel gleichsam freigelegt worden sind. Denn Raum ist hier in einem gleich doppelten Sinne Bild geworden, Großes mutet mit einem Male klein an, Naturhaftes künstlich, Fernes nah und Öffentliches privat. Trefflich lassen sich die Transformationen auch in der umgekehrten Weise beschreiben. Dabei mag jenes Stadtbild im Bild allein noch als Projektionsfläche fungieren, und der großstädtische Sehnsuchtsort dient allenfalls als eine ästhetische Folie, die mehr oder weniger geschmackvoll mit dem Dekor des Wohnzimmers abgeglichen worden ist.

Im künstlerischen Werk von Thomas Wrede kann man die Aufnahme sicher als ein Schlüsselbild bezeichnen. Denn geradezu paradigmatisch spiegelt die Bildanalyse eines bürgerlichen Interieurs eine skeptizistische Grundhaltung wider, die die Bedingungen der Bildproduktion ebenso reflektiert wie die des Bilderkennens. Schon die Titel der Werkserien, die Thomas Wrede seit 1996 realisiert hat, variieren immer wieder aufs Neue die trügerischen Wahrnehmungsfährten, die auf subtile Weise mit unserer kollektiven Seherwartung an das Bild verbunden sind. Magic Feelings, Magic Worlds, Domestic Landscapes, Small Worlds, Wrapped Landscapes, Real Landscapes. Bei den Motivreihen handelt es sich oftmals um betont künstliche Szenerien, die etwa in Erlebnisparks vorgefunden wurden oder auch aus dem Reservoir von Spielzeugeisenbahnen stammen können. Ein unmerklicher Wahrnehmungsbruch ist den Bildserien von Thomas Wrede eigen, nicht zuletzt, weil sie allesamt die Konstrukte des Realen unterlaufen.

MANHATTAN PICTURE WORLDS

Ein Moment von Wahrhaftigkeit bestimmt zunächst auch die Wahrnehmung der Werkserie Manhattan Picture Worlds. Denn die Farbaufnahmen von überdimensionierten Werbeflächen im Zentrum von New York lösen vordergründig einen dokumentarischen Anspruch ein, mit dem das fotografische Bildverfahren bereits im 19. Jahrhundert konfrontiert gewesen ist. Jene Beweislast des Dokumentarischen steht denn auch traditionsgemäß im Dienste einer Verdichtung des Sichtbaren, die in Hinblick auf das Werbesujet aber umso stärker ins Gewicht fällt. „An den Unterschied zwischen Plakaten und ihrer Umgebung haben wir uns so gewöhnt, dass wir ihn kaum noch sehen“, bemerkte Michael Schirner schon Ende der 1980er Jahre. Der Apologet deutschsprachiger Werbeagenturen hat denn auch auf den betont expansiven Charakter des Großflächenplakats im Stadtraum hingewiesen, um zugleich das medienspezifische Dilemma jeder fotografischen Erfassung auf den Punkt zu bringen. „Das Plakat verringert die Distanz. Oder anders: Es dehnt sich aus.“

Mit anderen Worten: WIR SCHAUEN NICHT. Wir werden angeschaut. Wir blicken nicht auf ein Bild. DAS BILD BLICKT AUF UNS. Zwangsläufig liegt in dem suggestiven Umkehrungsmechanismus die Grunddisposition von Manhattan Picture Worlds. Objekt und Subjekt sind also längst vertauscht, und der Betrachter befindet sich mehr denn je in der Defensive, zumal er vor Ort unweigerlich mit einem geradezu physisch erfahrenen Distanzverlust konfrontiert wird. Für sein Projekt hat Thomas Wrede daraus konsequenterweise ein Bildkonzept abgeleitet, das die aufgeladene künstliche Mimikry in gebotener Komplexität in die Anschauung überführt. Seine Serie nutzt nämlich den okkupierenden Drang gigantischer Plakatflächen in die Außenwelt nicht als Anfangs-, sondern als einen visuellen Endpunkt, um aus der Perspektive des Flaneurs heraus die radikale Verschmelzung von Werbebild und Realraum nachzuzeichnen. Dabei ist an Orientierung nicht zu denken. Ein Schwimmer krault etwa über einer Autowerkstatt. Ein Läufer sprintet über einen Hausgiebel. Zwei Basketballspieler fighten über einer Bushaltestelle. Halbnackte Leiber verzehren sich unverhohlen in körperlicher Begierde vis-a-vis einer Tankstelle. Ein anderes Mal erscheint ein Engel über der Wagenleiter. Und der Himmel an der digitalisierten Schaufassade der Investmentbank Lehman Brothers Inc. ist plötzlich so nah. Befinden wir uns in einem Traum? Betont fragmentarisch treten uns die Relikte jenes „Hot Medium“, so Marshall McLuhan, in den Bildern von Thomas Wrede entgegen. Zumeist sind die Werbeplakate als Restflächen und in einem beengten Sichtfeld erfasst, und erst im fotografischen Bild werden wir aus dem Chaos der Motive, Perspektiven und Slogans gewahr, was eigentlich in den Straßen und in unseren Köpfen gerade abläuft. Ihre Präzision gewinnen die fotografischen Bilder nicht zuletzt durch vielschichtige perspektivische Überlagerungen, die collageartig wirken und fast zwangsläufig als Wahrnehmungsbruch erlebt werden. Was ist hier Raum, was ist Bild, mögen wir wieder fragen. Einmal mehr ist Großes mit einem Male klein geworden, Naturhaftes mutet künstlich an, Fernes nah und Öffentliches privat. Und einmal mehr mögen wir auch das genaue Gegenteil attestieren und feststellen, dass die künstlich kreierte Sehnsuchtslandschaft längst ein Eigenleben entwickelt hat, dem mit kulturpessimistischen Statements über Werbeappelle und Wahrnehmungsdoktrinen nicht mehr beizukommen ist. Dass die Manhattan Picture Worlds ihre Suggestionskraft nicht eingebüßt haben, ist jedenfalls ebenso augenscheinlich wie das Faktum, dass in den Bildern von Thomas Wrede etwas bildhaft geworden ist, was sich in Worten nur schwerlich fassen lässt. Ein Geheimnis bleibt bewahrt. „Die Werbung kann nicht bestimmen, was ihre Adressaten denken, fühlen, begehren...“, bemerkte einmal Niklas Luhmann. „Im System der Massenmedien folgt sie anderen Gesetzen. Sie okkupiert die Oberfläche ihres designs und verweist von da aus auf eine Tiefe, die für sie selbst unzugänglich bleibt.“

WIR WISSEN NICHT, mögen wir nach dem Studium dieses Fotobuchs abermals sagen. Das Rätsel der Werbung scheint ungelöster, verführerischer und bedrohlicher denn je. Nicht ohne Pathos ließ Iwan Goll in dem eingangs erwähnten Romanwerk von 1927 seine Leserschaft wissen: „WIR WISSEN NICHT ist die letzte Rettung aus dieser gottlosen Zeit, in der alles entdeckt und alles ermöglicht wird,... die Zeit ohne Geheimnisse und Zweifel. WIR WISSEN NICHT ist ein neuer Anfang nach dieser Kultur.“ Manhattan Picture Worlds von Thomas Wrede zeigt, dass an Erlösung auch heute nicht zu denken ist.

Thomas Wrede / Real Lanscapes
Zwischen Sehnsucht und Debakel

ARTIST STATEMENT

THOMAS WREDE

REAL LANDSCAPES

Zwischen Sehnsucht und Debakel

„Was Wrede aus ein paar Metern Hügel, wenigen Quadratmetern Sand und einigen Spielzeughäuschen herausholt, sind Bilder von bestürzter Klarheit, aber auch Szenarien für hintergründige Psychodramen, mit (keineswegs zufälligen) Erinnerungen an die Landschaftsmalerei Giotto bis C.D. Friedrich und Filme von den Felsensilhouetten John Fords bis zu nächtlichen Ängsten bei Hitchcock. Dazu gehören aber auch Sehnsuchtsbilder, deren großen Atem wir in uns aufnehmen, aber auch Bilder zwischen Idylle und Debakel. Bilder, in denen sich Lebensstile verdichten: Beständig unterwegs sein, nie ankommen, Abbruch und Aufbruch in eins.“

Manfred Schneckenburger


Der Ausgangspunkt meiner fotografischen Arbeiten ist immer wieder die Sehnsucht nach der Natur und die Frage nach ihrer medialen Vermittlung. So untersuche ich in Magic Worlds (1997) die Inszenierung deutscher Freizeitpark-Landschaften. In der Serie „Domestic Landscapes“ (2001) sind die Sehnsuchtsbilder der Fototapeten in deutschen Wohnungen mein fotografisches Thema.

In den Real Landscapes möchte ich die Grenzen zwischen Modell und Wirklichkeit aufsuchen. In dieser Werkgruppe wird die Welt als eine Art Modelbausatz wiedergegeben, als eine Inszenierung mit großer Geste im kleinen Maßstab, als Bild und Nachbildung zwischen Idylle und Katastrophe.

Es ist mir wichtig, in die Welt hinauszugehen und mich der Landschaft mit ihrer spezifischen Licht- und Wettersituation auszusetzen und anregen zu lassen, um dann mit geringen und simplen Mitteln neue Bildwelten zu schaffen, die ausschließlich durch die Fotografie, in der Fotografie, als Fotografie existieren.

Meine Bildideen greife ich aus der Medien- und Kunstwelt auf und vermische sie mit persönlichen und inneren Bildern. Wie schon in früheren Werkgruppen nehme ich alltägliche Requisiten für die Inszenierung meiner Bilder. Spielzeugautos, klassische Modell-Häuser und kleine Plastiktannen aus der Welt der Modelleisenbahn werden auf den Stränden der Nordsee, in Kohlehalden und in Schutt- und Müllhaufen platziert.

Die Mikrostrukturen des Bodens verwandeln sich im Auge des Betrachters in vielfältige Makrostrukturen der Erdoberfläche. Erst beim genauen Hinsehen können Widersprüche und Unstimmigkeiten der Proportionen erkennbar werden. Die Fotografien sind mit der analogen Plattenkamera unter freiem Himmel fotografiert und anschließend leicht digital optimiert worden. Die fotografische Täuschung wird nicht durch digitale Bearbeitung sondern durch das Fehlen von Größenverhältnissen in der realen Landschaft hervorgerufen.

Thomas Wrede / Real Lanscapes
Somewhere between the idyllic and catastrophic

THOMAS WREDE

REAL LANDSCAPES

Somewhere between the idyllic and catastrophic

„What Wrede extracts from a couple of low lying hills, a few cubic meters of sand, and some toy houses are images of stunning clarity, but also scenarios for enigmatic psycho-dramas, which by no means evoke a mere coincidental reminiscence of the landscape paintings of Giotto to C.D. Friedrich or films with the rocky silhouettes of John Ford to the nocturnal foreboding of Hitchcock. Included in these, are images of wistful yearning, the spirit of which we absorb, but also imagery vacillating between idyll and debacle. Pictures in which lifestyles condense: constantly in motion, never reaching a destination, cessation and departure all at once.“

Manfred Schneckenburger

For the past years, the vantage point of my work has always begun with a deep emotional need to be linked with nature and the question of how this is presented within today’s media. I am inclined to explore the boundaries between simulation and reality. In the series “Real Landscapes” (2004 – 2014), I reproduce the world as a sort of model kit. Large impact scenes are presented on a very small scale. Images and replicas vacillate between the idyllic and the catastrophic.

It is of vital importance to me to get out and be exposed to the countryside and thus stimulated by all its unique light and weather situations. Then, using only a few simple means, I create novel worlds of imagery that exist exclusively through photography, by photography, as a photograph.

The ideas for my pictures are driven by impulses from the worlds of art and media, and I complement these with images of personal and cryptic significance. As is evident in my earlier series of works, I use commonplace objects for the staging of my pictures. Toy cars, classic-model houses and miniature pine trees taken from a model train kit are placed on North Sea beaches, in coal dumps, on garbage heaps and piles of rubble.

The viewer experiences a visual transformation in which the microstructures of the soil become the multifaceted macrostructures of the earth’s surface. Only after careful scrutiny can the incongruities and proportional discrepancies be detected. The photographs were taken outdoors using an analogue plate camera, and afterwards underwent minimal digital optimization. The photographic illusions are not a result of digital processing, but occur rather in the absence of dimensional comparisons within the real landscapes.

translation by Stephanie Klco Brosius

Freddy Lange / Magic Worlds

Frankfurter Allgemeine Zeitung, August 24, 2000

Magic Worlds

Text by Freddy Lange

Frankfurter Allgemeine Zeitung, August 24, 2000 



...The photographer Thomas Wrede (b. 1963) searched a half-dozen German amusement parks for scenes that had little to do with pleasure. Instead, without a trace of malice, his images of the fun parks speak more of a fictional feeling somewhere between amusement and adventure. One would like to call the works laconic; some are even melancholy.


Precisely seen, each photo captures a moment of melancholy; each one reports a loss of some kind. They show what is past and gone. Photos are histories from the moment that the photographer releases the shutter. Wrede's photos, however, convey a sorrowful atmosphere for another reason: they exclude history. Everything here is artificial, even the animals and plants. A patina of age will probably never lie upon the shining, painted façades. And the stainless steel will never rust.



These scenes of a jamboree are therefore no longer oriented toward the world, but instead, toward those film transparencies that are so often combined and layered by the entertainment industry, especially by the film industry, so that we even take them to be our own memories...To be excited in such surroundings must ultimately mean that existence is the best way for the self to become a fiction.



Translation by Allison Plath-Moseley

Josef Spiegel / Magic Worlds
Erschienen in: Die wundersamen Landschaftsbilder von Thomas Wrede, New York Contemporary Art Report, Dezember 2000 - Januar 2001

Josef Spiegel

Magic Worlds.

Erschienen in: Die wundersamen Landschaftsbilder von Thomas Wrede, New York Contemporary Art Report, Dezember 2000 - Januar 2001

Die Fotoserie Magic Worlds ist in deutschen Vergnügungs- und Freizeitparks entstanden. In einer Art Typologie werden künstlich geschaffene Landschaften und versetzte Pseudoarchitekturen prþsentiert: die Freiheitsstatue mit Schwarzwaldhaus in der Lüneburger Heide (Nord-Deutschland) oder ein skandinavischer See im Schwarzwald (Süd-Deutschland). 



Die weitgehende Zentrierung eines motivischen Gegenstandes, der hþufig leicht erhöhte Beobacherstandpunkt und die þhnlich diffusen Lichtverhþltnisse sind Merkmale der Arbeitsweise des Künstlers. Sie bewirkt, daß die spezifischen Orte austauschbar und damit beliebig werden, daß ein Typ von Landschaftsaufnahme entwickelt wird, der das Gemeinsame im Unterschiedlichen deutlich macht und dem Betrachter die Möglchkeit genommern wird, Größenordnungen und -verhþltnisse auszumachen. In den Bildern entsteht eine Welt en miniature, nicht unþhnlich den Eisenbahnmodellbauten.



Die Inzsenierungen der Vergnügungsparks weisen eine Schnittmenge zu beinahe archetypischen Sehnsüchten wie Heimat oder Abenteuer auf, aber sie gehen nicht darin auf. Folglich spielt der Künstler nicht Natur und Künstlichkeit, Sehnsucht und Wirklichkeit gegeneinander aus, sondern konfrontiert seine Fotoarbeiten mit den Bildern und Assoziationen, die im Kopf des Betrachters hervorgerufen werden. Daraus resultiert eine betrþchtliche Spannung.



Indem die Fotos ohne Menschen und die von ihm ausgehende Betriebsamkeit auskommen, entsteht eine Leerstelle zwischen unserer durch das Erlebnis geprþgten Vorstellung und den Fotos des Künstlers. Ähnliches bewirkt das in Szene gesetzte zusammengehen von vermeintlicher Natur und realer Pappmachelandschaft. 



Es entsteht eine eigene Welt, die das Gefühl des Übergangs vermittelt, welches ein Dazwischen im wörtlichen und übertragenen Sinn thematiseirt. Dieses Gefühl löst sich nicht auf. Bei aller Analyse behalten die Bilder etwas aufregend Fremdes und fremd Vertrautes. Dieses Dazwischen heißt Ahnung.

Josef Spiegel / Domestic Landscapes
Erschienen in: Die wundersamen Landschaftsbilder von Thomas Wrede, New York Contemporary Art Report, Dezember 2000 - Januar 2001

Josef Spiegel

Domestic Landscapes

Erschienen in: Die wundersamen Landschaftsbilder von Thomas Wrede, New York Contemporary Art Report, Dezember 2000 - Januar 2001

Die Fotoserie Domestic Landscapes ist in Privatwohnungen entstanden. Der deutsche Künstler Thomas Wrede hat Fototapeten in Wohn- und Schlafräumen, in Badezimmern und Fluren in verschiedenen Haushalten abgelichtet. 



Entstanden sind dabei keine dokumentarisch unterlegten Bebilderungen über die bundesdeutsche Wohnkultur, sondern wundersame Landschaftsaufnahmen. In ihnen gehen Teile des Mobiliars eine eigenwillige Mixtur mit der fototapezierten Wand des jeweiligen Raumes ein. Innen- und vermeintlicher Außenraum ergänzen sich zu einem Bild, wobei beide Teile absolut gleichberechtigt behandelt werden. Es scheint, als wären zwei oder mehrere Bildfolien stimmig übereinander geschoben. Das anscheinend nicht Zusammenfügbare wird in den Fotos spielerisch leicht zusammengeführt: ein Sofa mutiert zur Balkonbrüstung vor einem See und eine Tischlampe illuminiert das schneebedeckte Bergmassiv. Bildtitel wie "See mit Telefonregal", "Herbstlandschaft mit Weihnachtskerze " oder "Schreibtisch am Palmenstrand" unterstreichen diesen Zusammenhang. 



Der Künstler liefert assoziationsreiche und vielschichtige Bilder. Auf den zweiten Blick offenbaren sie tiefere Ebenen, die den Betrachter immer wieder anhalten und verwundern lassen, ohne dass der eigentliche Grund dafür erkennbar wäre. Des Rätsels Lösung liegt in der Komplexität der Situation, die einfache Antworten nicht zulässt. Wirklichkeit und Künstlichkeit, Innen und Außen, Wissen und Ahnung sind so ineinander verwoben, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.

Josef Spiegel / Die wundersamen Landschaftsbilder von Thomas Wrede
New York Contemporary Art Report, Dezember 2000 / Januar 2001

Josef Spiegel

Die wundersamen Landschaftsbilder
von Thomas Wrede

New York Contemporary Art Report, Dezember 2000 / Januar 2001

Die Fotoserie Domestic Landscapes ist in Privatwohnungen entstanden. Der deutsche Künstler Thomas Wrede hat Fototapeten in Wohn- und Schlafräumen, in Badezimmern und Fluren in verschiedenen Haushalten abgelichtet. 



Entstanden sind dabei keine dokumentarisch unterlegten Bebilderungen über die bundesdeutsche Wohnkultur, sondern wundersame Landschaftsaufnahmen. In ihnen gehen Teile des Mobiliars eine eigenwillige Mixtur mit der fototapezierten Wand des jeweiligen Raumes ein. Innen- und vermeintlicher Außenraum ergänzen sich zu einem Bild, wobei beide Teile absolut gleichberechtigt behandelt werden. Es scheint, als wären zwei oder mehrere Bildfolien stimmig übereinander geschoben. Das anscheinend nicht Zusammenfügbare wird in den Fotos spielerisch leicht zusammengeführt: ein Sofa mutiert zur Balkonbrüstung vor einem See und eine Tischlampe illuminiert das schneebedeckte Bergmassiv. Bildtitel wie "See mit Telefonregal", "Herbstlandschaft mit Weihnachtskerze " oder "Schreibtisch am Palmenstrand" unterstreichen diesen Zusammenhang.



Der Künstler liefert assoziationsreiche und vielschichtige Bilder. Auf den zweiten Blick offenbaren sie tiefere Ebenen, die den Betrachter immer wieder anhalten und verwundern lassen, ohne das der eigentliche Grund dafür erkennbar wäre. Des Rätsels Lösung liegt in der Komplexität der Situation, die einfache Antworten nicht zulässt. Wirklichkeit und Künstlichkeit, Innen und Außen, Wissen und Ahnung sind so ineinander verwoben, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. 



Die Fotoserie Magic Worlds ist in deutschen Vergnügungs- und Freizeitparks entstanden. In einer Art Typologie werden künstlich geschaffene Landschaften und versetzte Pseudoarchitekturen präsentiert: die Freiheitsstatue mit Schwarzwaldhaus in der Lüneburger Heide (Nord-Deutschland) oder ein skandinavischer See im Schwarzwald (Süd-Deutschland). 



Die weitgehende Zentrierung eines motivischen Gegenstandes, der häufig leicht erhöhte Beobachterstandpunkt und die ähnlich diffusen Lichtverhältnisse sind Merkmale der Arbeitsweise des Künstlers. Sie bewirkt, dass die spezifischen Orte austauschbar und damit beliebig werden, dass ein Typ von Landschaftsaufnahme entwickelt wird, der das Gemeinsame im Unterschiedlichen deutlich macht und dem Betrachter die Möglichkeit genommen wird, Größenordnungen und -verhältnisse auszumachen. In den Bildern entsteht eine Welt en miniature, nicht unähnlich den Eisenbahnmodellbauten.



Die Inszenierungen der Vergnügungsparks weisen eine Schnittmenge zu beinahe archetypischen Sehnsüchten wie Heimat oder Abenteuer auf, aber sie gehen nicht darin auf. Folglich spielt der Künstler nicht Natur und Künstlichkeit, Sehnsucht und Wirklichkeit gegeneinander aus, sondern konfrontiert seine Fotoarbeiten mit den Bildern und Assoziationen, die im Kopf des Betrachters hervorgerufen werden. Daraus resultiert eine beträchtliche Spannung.



Indem die Fotos ohne Menschen und die von ihm ausgehende Betriebsamkeit auskommen, entsteht eine Leerstelle zwischen unserer durch das Erlebnis geprägten Vorstellung und den Fotos des Künstlers. Ähnliches bewirkt das in Szene gesetzte zusammengehen von vermeintlicher Natur und realer Pappmachelandschaft. 



Es entsteht eine eigene Welt, die das Gefühl des Übergangs vermittelt, welches ein Dazwischen im wörtlichen und übertragenen Sinn thematisiert. Dieses Gefühl löst sich nicht auf. Bei aller Analyse behalten die Bilder etwas aufregend Fremdes und fremd Vertrautes. Dieses Dazwischen heißt Ahnung.

Manfred Schneckenburger
Eröffnungsrede zur Ausstellung „Strange Paradise“, Galerie Beck & Eggeling (Düsseldorf) und Mike Karstens (Münster) 2006/07

Manfred Schneckenburger

Eröffnungsrede

zur Ausstellung „Strange Paradise“, Galerie Beck & Eggeling (Düsseldorf) und Mike Karstens (Münster) 2006/07

Landschaft ist eine Erfindung des Menschen. Sie bildet sich, wir bilden sie als ein künstlerisches Konstrukt. Sie stellt einen ästhetischen Exzerpt aus der Natur dar, eine Szenario mit topografischen, botanischen Kulissen wie Berg und Tal, Bach, Baum, Wiese. Da kein Grashalm ohne den Regenwurm wachsen könnte, der im Erdreich wühlt, deutet die ökologische Komplexität nur an. Landschaft als umfassender Lebensraum (auch unter der Erde, über dem Horizont) und die ästhetische Reduktion auch einen idealen Projektionsraum für unsere Vorstellungen, unsere Empfindungen klaffen auseinander.

Thomas Wrede spitzt diese künstliche Welt der Landschaft als selektive Anschauung zu. Er greift in Maßstäbe ein, verringert die Distanzen der Aufbauten und steigert das Umfeld so in eine neue Dimension, die ausschließlich durch die Fotografie, in der Fotografie, als Fotografie existiert.

Sie sehen um sich Bilder, die 2004/2005 auf der Nordseeinsel Amrum entstanden sind. Sie sehen daneben, ein Jahr jüngere Bilder aus der Lausitz, eine Autostunde südlich von Berlin: ausgeweidete Überbleibsel vom Braunkohle Tagebau. Ein einziges Foto, „Haus im Gebirge“ wurde im Sauerland aufgenommen. Auf der ersten, ja, auch noch auf den zweiten Blick: „Real Landscapes“, wirkliche Landschaften. Wie beide Reihen heißen.

Fast immer hebt sich heraus oder verschwindet winzig klein, was an Menschen erinnert: Häuser, Arbeitsbaracken, Eisenbahnschienen, die, im Foto perspektivisch forciert, in die Tiefe führen. Viele Bilder reichen bis zum Horizont. Erst beim dritten Blick fällt dann ins Auge: Selbst die fernste Horizontlinie erscheint noch so präzise konstruiert, so detailscharf aufgefüllt wie der Vordergrund. Kein Dunst, kein Hauch von Luftperspektive, kein Ablaufen in größerer Distanz zum Objektiv. Zurückliegende Dünenketten und Hügelsäume ziehen sich mit einer Genauigkeit hin, die mit unserer Erfahrung von Nähe und Ferne nicht übereinstimmt.

Aber auch beim Haus zwischen den Felsen, das ja zwischen den gigantischen Riffen förmlich zu versinken droht, kommt Irritation auf. Bedeutet der grüne Schimmer auf Baumbewuchs, niedriges Buschwerk oder Moos? Decken wir das Miniaturhäuschen mit den Händen zu, könnte der Felsschlucht auch ein zusammen geschobener Haufen zugrunde liegen. Ist was im Bild als dramatische Landschaft erscheint als zyklopisches Felsengedränge, in Wahrheit eine Inszenierung aus Steinhaufen und Spielzeugrequisite im HO-Maßstab, wie Modelleisenbahner dieses Versatzstück kategorisieren? Gewiss nutzt Wrede das bekannte bildnerische Rüstzeug des professionellen Fotografen: Belichtung, Fokussierung, Blickwinkel, Ausschnitt, aber er bezieht sich auf unser Auge, die Bedingungen unserer Wahrnehmung, die Projektionen unseres Bilderwissens vom Postkartenmotiv bis zu „erhabenen“ Romantizismen, gezielt mit ein, um grandiose Szenerien vorzugaukeln.

Wrede verwendet dazu eine klassische Plattenkamera mit Weitwinkel. Er fotografiert immer noch wie der Fotografenmeister meiner Kindheit unter einem schwarzen Tuch. Erst wenn das analoge Bild im Kasten ist, nutzt er vorsichtig die digitalen Möglichkeiten und retuschiert, reinigt optimiert das Negativ von Unsauberkeiten, Insektenspuren und ähnlichen Zufällen. Er will eine ruhige, in sich perfekte Oberfläche ohne Pocken und Pickel, auf der ggfs. Sandkörner mit dem Korn des Papiers zusammen fallen.

Inzwischen haben Sie das Prinzip der „Real Landscapes“ sicher durchschaut. Wrede wählt aus einer Landschaft ( Amrum, Lausitz, Sauerland ) einen Auszug, der manchmal nur wenige Fußschritte umfasst, meist ein Stück Horizont einschließt. Dann setzt er unsere Wahrnehmung auf falsche Spuren: Im Foto bemisst sich das ganze Umfeld nach der Größe des Hauses. Selbst geringe Erhebungen in der unmittelbaren Nachbarschaft, schmale Brocken weiten sich vom Arrangement ins Grosse, Landschaftliche. Aus Sandschüben werden Dünenketten, aus Steinhaufen Abraumhalden. Der Zusammenklang kann so perfekt sein, dass der Gegensatz von enger Realität zum gefühlten, wahrgenommenen Raum sich im fertigen Bild aufhebt. Wrede ist ein Meister dieses Vorgehens, das uns grandiose Szenerien vorgaukelt.
Einzelnen Indizien bleiben doch.

Auf dem Bild „Haus auf der Hochebene“ verläuft eine Reihe von muldenartigen Eintiefungen über den Mittelgrund: Fußabdrücke. Die Spuren stammen, obgleich mehr als hausbreit, von kleinen Riesen, sondern vom Fotografen der sein Motiv überquerte, bevor er die Kamera darauf richtete. Sie können daraus mit Recht schließen, dass auch die Dünenreihe dahinter in Wahrheit aus kniehohen Erhebungen besteht. Kein Hügel, die man betritt sondern Sandschübe, über die man hinwegsteigt. Das Haus misst nur wenige cm HO-Format. Auch die lang gestreckte grüne Matte auf dem Foto ist tatsächlich ein Stück Kunststoffrasen, Breite 300cm.

Als Kinder betteten wir unsere Märklin-Eisenbahn in solche Wiesen ein. Die Sandverwehung die darüber steht, breitet sich gerade mal wenige Schritte aus. Nichts um darin herum zu irren. Dennoch scheint der Sand wie undurchdringliche Nebelschwaden die Sicht zu nehmen: Ein amorphes Labyrinth aus Helligkeit. Wredes komplexe Regie ist zu starken Stimmungen fähig.

Am Gegenpol zur Lichtdurchfluteten Wiese steht das Nachtbild einer düsteren Talsenke. Eine Szenerie wie aus einem amerikanischen Film: eine Baracke mit hell erleuchteten Fenstern, daneben ein Reklamemast mit dem Logo „Dari King Drive In“. Die primitive Raststätte ist von dunklen Bergen umgeben. Direkt neben ihr fällt Licht auf parkende Autos. Im Dunkel eine liegen gebliebene Baustelle. Eine traurige Oase zwischen Abraumhalden, mit Lichtern, die in dieser Wüstenei heimelig und gleichzeitig bedrohlich wirken. Reifenspuren leiten ins Nirgendwo. Ein Ort an dem vieles möglich ist, friedliche Rast oder ein Überfall, Idylle oder Katastrophe? Jedenfalls eine typisch amerikanische Szene, wie Hollywood sie liebt. Wrede erzählt, dass alle Exemplare dieses Blattes auf seiner jüngsten Ausstellung in NY schon ausverkauft waren. Fotografiert wurde allerdings in der Lausitz : ein starkes Argument für die Macht der Inszenierung im Zusammenspiel von Requisit und ausladendem Landschaftsgrund.

Nebenbei lässt sich jetzt auch die Frage nach dem Standort des Fotografen beantworten. Wrede hat hier, wie meistens, aus feiner leichter Schräge von oben, as 30-50 cm Höhe fotografiert. Auf einzelnen Fotos hält er die Position der Kamera fest. Die ist mit einem Koffer und einem Buch unterlegt. Auf einem Foto wiederholt sich die Landschaft um den Dari King Imbiss zu einer anderen Tageszeit. Die Kamera wird zu einem Repoussoir auf einer leichten Anhöhe im Vordergrund. Sie ist jetzt weiter weg von dem Rastplatz gerückt. Ich will die Rekonstruktion der Standorte indes nicht durchrechen, denn natürlich hat Wrede es gerade nicht auf den Verblüffungseffekt solcher Analysen abgesehen.

Das Sandwellen als Dünen und Steine als Berge erscheinen berührt übrigens ein altes Rezept byzantinischer und trecentistischer Malerei. „Wenn du einen Berg darstellst, so sieh dir einen Stein an“, heißt es um 1400 in Cenninis Traktat über die Malerei. Schon bei Giotto verdanken die Berge dieser Regel einen ihre kompakte Geschlossenheit. Auch Wrede inszeniert und fotografiert auf seine Art, Kompositionslandschaften aus gebauten Miniaturen und Auszügen aus der Natur. Die Kamera dokumentiert, was sie sieht und täuscht etwas vor, was es so nicht gibt: eine eigene Wirklichkeit, die weit und groß wirkt aber klein ist und nahebei liegt.

Das ließe sich mit hochfliegenden Philosophen unterbauen, über den Anlass hinaus. So etwa, wenn der französische Denker Maurice Merleau-Ponty schreibt: „Wie kann die Welt uns wirklich erscheinen, wenn keine der Perspektiven, unter denen ich sie betrachte, sie zu erschöpfen vermag und die Horizonte immer offen sind.“ Oder, wie die Herausgeber eines Wrede Kataloges zusammenfassen: „Auf der Basis von Merleau-Pontys sich permanent verändernder Perspektive, erweist Wrede sich als Meister des subtilen visuellen Vexierspieles zwischen Modell und Wirklichkeit“. Seine Real Landscapes könnten leicht zum Beleg zum Beleg für Die Theorien der Philosophen verkommen, wären, ja wären da nicht Stimmungen und Assoziationen, die weder Wahrnehmungstheorie noch Begriffe wie „Vexierspiel“ einfangen können.

Was Wrede aus ein paar Metern Hügel, wenigen Quadratmetern Sand und einigen Spielzeughäuschen herausholt, sind Bilder von bestürzter Klarheit, aber auch Szenarios für hintergründige Psychodramen, mit (keineswegs zufälligen) Erinnerungen die Landschaftsmalerei Giotto bis C.D. Friedrich und Filme von den Felsensilhouetten John Fords bis zu nächtlichen Ängsten bei Hitchcock. Dazu gehören aber auch Sehnsuchtsbilder, deren großen Atem wir in uns aufnehmen, aber auch Bilder zwischen Idylle und Debakel. Bilder auch, in denen sich Lebensstile verdichten: Beständig unterwegs sein, nie ankommen, Abbruch und Aufbruch in eins. In der Lausitz findet Wrede Un-Landschaften in der Folge von unfertigen Straßenschneisen und Verwendung des Tagebaus. Wrede hat mit der Kamera einzelne Bilder inszeniert, in denen Landschat in Symbol der Existenz umschlägt.

Man versteht jetzt warum der gleiche Künstler aus Amrum auch überhelle Strandbilder mitbrachte. Endlos Hingebreitete Sandstreifen, die ins flache Meer und den Himmel übergehen. Wanderer oder Badende die sich am Horizont verlieren.
Diese Maßverhältnisse sind werde künstliche implantiert noch als visuelle List eingesetzt. Bunte Farben wirken in der Überbelichtung nicht mehr hart sondern wie in milchiges Licht getaucht. Diese Strände sind keine als Landschaften lesbaren Sandhaufen. Sie dehnen sich wahrhaft grenzenlos. Wrede selber erklärt, dass ihn die ständige Arbeit mit Wahrnehmung, die operative Regie mit den Bildern, mit umschlagenden Maßstäben , kurz die Erschaffung einer imaginierten Welt zwar ungeheuer reizt, auf Dauer jedoch, wenn schon nicht belastet, so doch anstrengt. Die „Seascapes“ sind dagegen Erholung im doppelten Sinn. Sie lösen dabei ein was in den „Landscapes“ Anspruch und Versprechen bleibt. Horizonte, die Entgrenzung nicht nur vorgeben, sondern Sand, Himmel, Meer ineinander verschwimmen lassen. Menschen die zu einem Reflex der Unendlichkeit werden. Sie haben jetzt die Chance, den sehr verschiedenen Ansätzen des Fotokünstler Thomas Wrede nachzugehen. Ich danke Ihnen.

Isabel Mundry / Magic Feelings – Porträts von Achterbahnfahrern – Portraits of Rollercoaster Passengers
Auszug aus der Laudatio anlässlich der Verleihung des Karl-Hofer-Preises 1997, Hochschule der Künste Berlin (jetzt UdK Berlin)
Excerpt from the laudation held during the awards ceremony of the Karl Hofer prize at the Hochschule der Künste Berlin (now University of the Arts Berlin UdK)

Isabel Mundry

Magic Feelings – Porträts von Achterbahnfahrern

Auszug aus der Laudatio anlässlich der Verleihung des Karl-Hofer-Preises 1997, Hochschule der Künste Berlin (jetzt UdK Berlin)

In fotografisch gebannten Momenten, die dem natürlichen Augen verborgen bleiben, entstehen stille Porträts angst- oder lustverzerrter Gesichter, und es zeigt sich, wie ein von außen gesteuertes Massenerlebnis, der eine Schrei von allen, für Bruchteile von Sekunden zerfällt in die Einzigartigkeit eines subjektiven Moments existentieller Gefühle. So bewahren diese Porträts etwas, was die Porträtierten vielleicht selbst nicht wahren oder kennen wollen, die Spuren ihrer individuellen Prägung im Augenblick des kollektiven Rausches.

Doch der fotografische Blick vermeint nicht, die Porträtierten besser zu kennen als sie sich selbst. Die Bilder zielen gerade nicht auf einen voyeuristischen Blick ins innerste der Gesichter, sondern sie wahren sich eine Distanz und reflektieren ihre künstlerischen Mittel, um so zu einer eigenständigen Anschauung und Interpretation zu kommen. Die fotografisch hervorgehobenen stummen Schreie der Porträtierten vor ausgeblendetem Hintergrund, die durch die Geschwindigkeit bedingte Verzerrung und Unschärfe der Bilder, ihre Grobkörnigkeit und nicht zuletzt das Proportionsverhältnis der breiten Bildränder zu den relativ kleinen Fotos – all dies sind Zeichen, die an der Umdeutung des Ausgangsmomentes mitwirken.

Aus dem präzisen Blick auf ein Geschehen lärmender und flüchtiger Geschwindigkeit entstehen Fotografien von eigener Stille und Zeitlosigkeit, die eine Autonomie entwickeln, welche sich von ihrer dokumentarischen Vergangenheit abzulösen scheint. So erzeugen diese Fotografien ihren ureigensten "Klang der Bilder". Ihre Referenzen finden sich eher in der Malerei als in der Fotografie.

 

Magic Feelings – Portraits of rollercoaster passengers

Excerpt from the laudation held during the awards ceremony of the Karl Hofer prize at the Hochschule der Künste Berlin (now University of the Arts Berlin UdK)

In photographically spellbound moments that remain hidden from the natural eye, silent portraits of faces contorted by fear or delight emerge, manifesting as an externally controlled mass experience of a cry from all, that for fractions of a second fall into the uniqueness of subjective moments of existential feelings. In this way, these portraits preserve something that the subject might not even want to be made aware of or know about, namely the traces of their individual impressions at the moment of collective intoxication.

Yet, the photographic perspective does not presume to know the subjects better than they know themselves. The photographs do not at all aim at a voyeuristic view into the interior of the faces, but remain at a distance reflecting their artistic means, in order to create an independent view, fostering novel interpretations. The photographically accentuated silent screams of those portrayed in front of a faded background as the result of the speed-induced distortion and blurring of images, their coarseness, and not least of all the disproportion of the wide boarders to the relatively small images - these are all characteristics that influence the reinterpretation of the affected torque.

From the precisely captured glimpse of an incident both noisy and fleeting in speed, emerge photographs of unique silence and timelessness, which develop an autonomy seemingly detached from their documentary past. Thus, these photographs generate their very own "resonance of imagery", evoking references closer to painting rather than photography.

Klaus Honnef / Magic Worlds
Zitat aus dem Katalogtext: Thomas Wrede: Mitten im Leben in die Kunst, in: Thomas Wrede, Magic Worlds, S. 46

Klaus Honnef

Magic Worlds

Zitat aus dem Katalogtext: Thomas Wrede: Mitten im Leben in die Kunst, in: Thomas Wrede, Magic Worlds, S. 46

Die dokumentarische Präzision im Aufnahmeverfahren forciert die Künstlichkeit des Abgebildeten, katapultiert den fotografischen Realismus in die Sphäre des Hyperrealismus und verwischt die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion bis zur Unansehnlichkeit. Durch die Intensität des forcierten Realismus ruft es beim Betrachter auch nur mäßige Verwunderung hervor, wenn hinter einem „typischen“ Schwarzwaldhaus die amerikanische Freiheitsstatue grüßt …

„Magic Worlds“ hat Thomas Wrede sie (Freizeitpark-Landschaften) genannt, anknüpfend an die These des verstorbenen Medienwissenschaftlers Vilem Flusser, derzurfolge die allgegenwärtigen Bilder der modernen Massenmedien das, was die meisten Menschen noch als „Wirklichkeit“ erfahren, allmählich in ein filmisches Szenario verwandeln, es „magisch“ transformieren, um statt des kollektiven Erinnerns das „Vergessen“ zu fördern. 

Die Bilder des Zyklus „Magic Worlds“ rühren aus einer Welt, wo gegen beträchtliche Entgeld ein künstlich stimulierter Erlebnishunger gestillt wird, dessen Motorik die fiktiven Bilder der Massenmedien erhält und beständig beschleunigt.
Die Welt der Bilder triumphiert über die Realität.

 

William A. Ewing / Landmark
The Fields of Landscape Photography

William A. Ewing

Landmark

The Fields of Landscape Photography

The first truly international survey of a vibrant, burgeoning field, its masterful twenty-first-century practitioners and their work. A thought-provoking meditation on the meaning of landscape in today’s world.

‘A definitive study of contemporary landscape photography in all its conceptual variety’ – Financial Times

‘An exhaustive and enlightening survey of the genre’– British Journal of Photography

'Landscape suits photography. You can’t get away from either. But it is quite often treated in pictures as it is in the world: it’s in the background, not necessarily the main subject. This vast field, approachable from so many directions, has been a little daunting for those who would like to make ordered sense of it.


William A. Ewing has curated what is surely the defining overview of the contemporary approaches to landscape. With an illuminating text explaining his own waymarks and signposts, and without making any bones about its being a necessarily personal selection, he gives us here a chance to reclaim landscape photography from its fractured state and see it in the round'.– Francis Hodgson, The Financial Times

Cadavre exquis, 1991–1994
Kurze Projektbeschreibung / short introduction

Cadavre EXQUIS, 1991 - 1994

In der Werkgruppe Cadvre Exquis wird eine in dünne Plastikfolie verpackte Wurzel von allen Seiten nd in vielen Detailansichten fotografiert. Diese Detailfotografien (analog auf Schwarzweißfilm) werden dann in immer wieder neuen Ansichten und Spiegelungen zusammengefügt, sodass Bilder von einem körperhaften Gebilde entstehen, welche nur in der Fotografie existieren. Bei diesen großformtigen und mehrteieligen Schwarzweißfotografien handelt es sich um Handabzüge auf Barytpapier (Silbergelatine Prints). Der Titel „Cadavre exquis“ greift auf das kombinatorische Mal- und Wortspiel der Surrealisten zurück.

André Breton definiert CADAVRE EXQUIS als ein Spiel mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann. Das klassisch gewordene Beispiel, das dem Spiel seinen Namen gegeben hat, bildet den ersten Teil eines auf diese Weise gewonnenen Satzes: Le cadavre-exquis-boira-le-vin-nouveau (frz. = „Der köstliche-Leichnam-wird-den-neuen-Wein-trinken“). Breton betont, dass man mit dem Cadavre exquis über ein unfehlbares Mittel verfüge, das kritische Denken auszuschalten und der metaphorischen Fähigkeit des Geistes freie Bahn zu verschaffen.

Cadavre EXQUIS, 1991 - 1994

In the photographic work “Cadavre Exquis” (named after the “Exquisite Corpse” technique developed by the surrealists), a root wrapped in plastic foil, is then photographed in detail from all angles within its natural environment. These partial perspectives of one and the same root are then put together in numerous combinations, creating novel structures. Augmented by duplication and rotation, using solely analog methods, the resulting sculptures exist only within the photograph. In this way, long before the use of digital montage techniques, unique worlds of images were created utilizing traditional dark room techniques and high-contrast Baryta photo paper.

Defined by André Breton: Exquisite corpse, (or rotating corpse) – a collaborative parlor game, in which the objective is for several people to use folded paper to construct a sentence or a drawing without knowledge of the other’s preceding contribution. The now classic example, which gave the game its name, is the first part of a sentence obtained in this way: Le cadavre-exquis boira-le-vin-nouveau (French = "The exquisite corpse shall drink the new wine").

Christoph Schaden zur Fotografie von Thomas Wrede
Aus dem Katalogtext von Christoph Schaden: das Bild; eine Küste, in: Thomas Wrede, strange paradise, Bielefeld 2005

Christoph Schaden
zur Fotografie von Thomas Wrede

Aus dem Katalogtext von Christoph Schaden: das Bild; eine Küste, in: Thomas Wrede, strange paradise, Bielefeld 2005

Wer in der fotografischen Arbeit von Thomas Wrede ein gedankliches Leitmotiv sucht, wird es vermutlich im Moment der Ambiguität finden. Es sind jene komplexen Denkfiguren des Mehrdeutigen, die in Hinblick auf das vermeintlich Sichtbare ausgelotet werden. Mit jedem Blick auf die Werkgenese des Münsteraner Künstlerfotografen verstärkt sich eine skeptizistische Grundhaltung, den Bedingungen des Bildermachens und Bilderkennens auf den Grund zu gehen. Denn je einfacher der Sehprozess ist, desto unauflösbarer scheinen die mit ihm verbundenen Fragestellungen.

Christoph Schaden / Small Worlds
Aus dem Katalogtext von Christoph Schaden: das Bild; eine Küste, in: Thomas Wrede, strange paradise, Bielefeld 2005

Christoph Schaden

Small Worlds

Aus dem Katalogtext von Christoph Schaden: das Bild; eine Küste, in: Thomas Wrede, strange paradise, Bielefeld 2005

Der Auftakt dieses Bandes bildet die Serie "Small Worlds", die zugleich den Beginn der dritten Werkphase von Thomas Wrede markiert. Vordergründig bedeutet die zwischen 2001 und 2005 entstandene Serie eine Abkehr von der dokumentarisch geleiteten Vorgehensweise der "Magic Worlds"- und "Domestic Landscapes"-Arbeiten. In ihrer kompositorischen Simplizität, ihrer farblichen Präsenz und ihrer stringenten Unschärfe thematisieren die Bilder offenkundig weniger die fokussierten Objekte als vielmehr die Bedingungen ihrer Bildlichkeit. Als rahmenlose Flächen entfalten die Wandarbeiten in der Wirkung zunächst ein Höchstmaß an Präsenz, die sprachlos daherkommt. Dass ihnen ein bildimmanenter Diskurs eigen ist, artikuliert sich im Serientitel, der bewusst eine falsche Wahrnehmungsfährte legt. Denn es handelt sich keineswegs um Aufnahmen von Spielzeugwaren, wie man vielleicht vermuten könnte.

Das Schiff ist ein Schiff, heißt beispielhaft eine überraschende tautologische Seherkenntnis, weil Thomas Wrede einmal mehr das vermeintlich Reale auf den Plan ruft. Mit dem Verfremdungseffekt der Unschärferelation evoziert er wohl kalkuliert im Sehprozess eine Ungewissheit, um dennoch die funktionale Identifizierung der Objekte zu ermöglichen (etwa "Queen Mary"). Seine Aufnahmen von einzelnen Mobilen, die isoliert in einer freien Außenlandschaft verortet sind, balancieren infolge der Unschärfe denn auch auf einem sehr schmalen Grad des Erkennens, in dem die reine Bildanschauung gegen den Eigencharakter des fotografischen Abbilds gewendet wird. In der Rezeption äußert er sich in dem affirmativen Zeigereflex, der in den Resten des Authentischen noch den Beweischarakter des abgelichteten Objekts einfordert. Ja, da ist ein Schiff, mag man mit kindlichem Trotz sagen. In ihrer ästhetischen Versiertheit verharren die Bilder von "Small Worlds" gleichwohl in merkwürdiger Schwebe.

Christoph Schaden / Wrapped Landscapes
Aus dem Katalogtext von Christoph Schaden: das Bild; eine Küste, in: Thomas Wrede, strange paradise, Bielefeld 2005

Christoph Schaden

Wrapped Landscapes

Aus dem Katalogtext von Christoph Schaden: das Bild; eine Küste, in: Thomas Wrede, strange paradise, Bielefeld 2005

In "Wrapped Landscapes" (2004-2005) bedeutet der Titel weder das Resultat einer künstlerischen Aktion noch die Zurschaustellung einer überkultivierten Reallandschaft. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine strenge Typologie von Baumgruppen und Einzelbäumen, die allesamt dem postindustriellen Dekor einer Spielzeugeisenbahn entstammen. Wer in der detailtreuen Produktserie aus Palme, Weide, Eiche, Tanne, Kopfweide, Birke und Sträuchern dem Landschaftsbegriff nachspürt, wird ein ironisches Bezugssystem vorfinden, das überall von Brüchen geprägt ist. Es lässt sich etwa trefflich spekulieren über die kindlichen Beweggründe einer Aneignung, die eine Realwelt auf Märklinniveau idealtypisch nachzuformen sucht. In den Bildern von Thomas Wrede wird dieser naive Schöpfergestus durch die Originalverpackung karikiert, die das zugrunde liegende Sehnsuchtspotential noch einmal als Bild im Bild nachzeichnet. Als isoliertes Einzel- oder Reihenobjekt wird der Wald in Analogie zu den Interieuraufnahmen von "Domestic Landescapes" durch Landschaftsfolien hinterlegt, die von einer heilen Welt erzählen.

Bei den "Wrapped Landscapes" handelt es sich also ausnahmslos um Miniaturen der Künstlichkeit, die als erwerbbare "objects trouvée" das vermeintlich Reale längst verdrängt haben. In ihrer farbig nuancierten Bildlichkeit folgen sie erstaunlicherweise nicht dem verbreiteten Sentiment, welches den Ersatzcharakter einer Plastikvegetation als bloßen Verlust kennzeichnet. Es scheint vielmehr, als habe der Künstlerfotograf die Wahrnehmung selbst verpackt. Auf der Bildebene führt das strenge Diktat des Dokumentarismus letztlich ins Absurde. Hinzu kommt, dass auch das typologische Korsett der unterschiedlichen Baumarten im Sehprozess eher ein Schmunzeln als tiefe Erkenntnisse hinterlässt. Eine Palme, eine Weide, eine Eiche, eine Tanne, eine Kopfweide, eine Birke…

Verlagsankündigung
Manhattan / Picture Worlds (german)

Thomas Wrede

Manhattan / Picture Worlds

erscheint im März 2009

In den letzten sechs Jahren fotografierte Thomas Wrede immer wieder die großen New Yorker Plakatwände. Dabei konzentrierte er sich oft auf Details, die er mit den Menschen und der Atmosphäre künstlerisch in Beziehung setzt.

Die Stadt wird so zur Bühne und Kulisse, die auf übergroße Formate aufgeblasenen Ideale der Werbung verschwimmen dabei mit dem Realismus der Straße, der Wirklichkeit des Lebens. So verdrängt der verführerische Schein einerseits den oft maroden Zustand der Realität, andererseits potenziert sich gerade durch diesen Kontrast die Schnelllebigkeit und Vitalität dieser Stadt, die sich immer wieder neu findet und erfindet.

Wie schon in seinen früheren Fotoserien geht es Thomas Wrede auch hier um die Verschiebung von Größenverhältnissen und die Erzeugung unterschiedlicher Realitätsebenen: Momentaufnahmen von vielschichtigen Situationen fügen sich so zu einer klassischen Collage, einer Real-Collage, die nur im Augenblick der Kameraauslösung und des Kamerablickwinkels existiert.

Die Publikation erscheint im März 2009 im KERBER VERLAG, BIELEFELD anlässlich der Ausstellung „Manhattan / Picture Worlds“ bei Beck & Eggeling new quarters.

Eröffnung am 5. März 2009, 19.00 Uhr, Beck & Eggeling new quarters, Düsseldorf

Mit Textbeiträgen von Marshall Berman und Christoph Schaden dt./engl. Format ca. 31x26 cm, ca. 120 Seiten, mit ca. 52 Abbildungen

ISBN 978-3-86678-244-0, ca. 48 EUR

>>> Fotos

NEW PHOTO BOOK
Manhattan / Picture Worlds

Manhattan / Picture Worlds

Will be published in March 2009

During the past six years, Thomas Wrede has returned repeatedly to the billboards of Manhattan as a photographic motif. In doing so, he has frequently concentrated on details viewed artfully in relation to people and atmosphere. The method turns the city into a stage set on which the larger-than-life ideals of the advertising industry merge imperceptibly with the realism of the street and the reality of life. While the allure of appearances outshines the bleakness of reality, the contrast generated in this way serves to intensify the fast-paced vitality of a city constantly reinventing itself.

As in earlier series of photographs, so in this one Wrede’s main interest is in shifts in the relative size of things and in the generation of different levels of reality. Snapshots of multilayered situations combine to create a classic collage, a real collage that exists only for that split second in which the shutter is depressed and only when glimpsed from the camera’s own angle.

The illustrated book will be published on the occasion of the exhibition „Manhattan / Picture Worlds“, 5 March to 2 May 2009, Beck & Eggeling new quarters, Dusseldorf.

Authors: Marshall Berman and Christoph Schaden Size approx. 260 x 310 mm, approx. 120 pages with approx. 52 coloured illustrations, hardcover, bound, German/English

ISBN 978-3-86678-244-0, 48 EUR, Kerber Photo Art

>>> photos

Birds hang in the air and scream
Inaugural address by Manfred Schneckenburger

Birds hang in the air and scream

Ladies and gentlemen,

The day is overcast with a sense of melancholy; the subject is poignant. The stage is set with great precision. It is a production generating from and entirely concerning the site in which the exhibition takes place. This is perhaps the most pertinent production this pavilion has seen to date.

Thomas Wrede is photographer in residence at the Wewerka-Pavilion in Münster, Germany. The pavilion was designed by Stefan Wewerka in 1987, as part of the “documenta 8” in Kassel. It is a structure built from metal supports and glass walls, and its sole purpose is to exhibit art. Over the years, Wrede has masterfully documented the works of other artists both in and outside of this glass showcase. His tireless search for the perfect shot led him to explore this pavilion from every angle, and has thus made him familiar with each and every nuance of light at any time of the day. In his exploration, it did not escape Wrede that the occasional wounded or distraught bird could be found lying outside the base of the huge glass panes. It wasn’t until backlit by the sun, a powdery-white shadow made up of minute particles of feather dust, blood and other bodily tissues caught his eye, that the beginnings of his own project began to take shape. The remnants left behind a barely visible smear, lacking in form and definition. He had to really look closely before realizing that what was left behind in a fraction of a second was the impact of a bird colliding with glass in mid-flight. The fruition of Wrede’s observations is seen here in the 12 photographs presented, which are much more than mere images.

He captured the moment, which by the time it was photographed was long past – the quiet, unspectacular vestige of a sudden, often fatal jolt. It is in the very nature of photography to capture these fractions of seconds on film. The great pioneers of photography from the 19th century perceived within the photograph literally “nature’s imprint”. Although Wrede empathized with the tragedy that had befallen these creatures, he was nonetheless fascinated by this curious twist on the mythical birth of photographic art. The decisive moment within his images was long past before it was caught by the camera’s eye. In this way, the instantaneous photographic “imprint” had been doubled, essentially taken to a higher power. This is the medial precision that is maintained within Wrede’s photographs.

However, at the same time, an almost magical process began, which is far more significant and larger than life than the 8-fold enlargement of the images. Out of a fleeting, almost imperceptible trace that dissolves into transparency, emerged an image of dangerous impact, that manifests an unsettling presence. The intricacies of Wrede’s work are a mystery to me. I don’t know what kind of paper, which grain, contrasts or materials he used to cause the lights to be brighter, and the darks to be deeper without using chemo-graphic manipulation. Nor do I know the details of how he reconstructed the bird’s bodies, their movements, dynamics, compressions, and contortions upon impact. How does a disembodied phantom suddenly become corporeal, yet remain completely intangible? How can a devastating memory, one that it tortured, ghostly, vulnerable and injured actually appear as a luminous vision set in front of a black cosmic background? Each photo is a sober memento, a silent cry that is carefully and effectively inscribed with nothing short of tenderness into the depths of the background. Each photo conveys an eloquence of its own, extending well beyond a documentary aspect. The pitch-dark background is not only a photographic necessity that makes the collision visible. It gives the moment of death significance, drama, mounting tension, even something awe-inspiring.

The staging of the exhibition specifically intensifies these effects. Wrede uses the glass showcase to his advantage. Not only do the birds circle within the room, but the room extends to form a protective zone, preventing all obtrusiveness, and preventing any direct eye contact from the viewer. The dreadful moment seems reconstructed, yet at the same time somehow conquered. How melodramatic and trite it would have been to bring the birds in direct contact with the glass, thus killing them once more. Wrede even renounced an earlier idea to dramatize the exhibit with bird calls and sounds of impact. This exhibition conveys quite a different quality of expression than the sensationalism of an animal catastrophe. The large black boards frame the photographs like the wings of a tryptich. Klaus Lankheit referred to the tryptich as a “pathos formula”. A resonance of this formula is seen with two wings extending from a central image. This order is noted time and again throughout the sequence of Wrede’s 12 photographs. Would it be going too far to vaguely associate the order of an altar? An epitaph for 12 dead birds resurrected in the photograph?

I already mentioned that Wrede’s work reminds me of the dream the early photographers had of forcing nature to show itself. Nearly all the pioneers from Niepce to Henry Fox Talbot held onto the idea of a nature mimetic procedure. Niepce: “Nature itself leaves a distinct impression on the plate” – he suggested the term “physautopie” which means bodily self-imprint. The plate camera from last century was supposed to record whatever the result would be when a body left a direct impression: more than the eye can see. This strategy of imprint defined the photography of the 19th century as much as the strategies of enlargement define the photography of our century. In Thomas Wrede´s work both have been implemented essentially, both also artistically: the imprint as well as the enlargement that allows the readability of the imprint.

Once again I quote the great Henry Fox Talbot in his book “The Pencil of Nature” from1844: “One of the charms of photography is the fact that a photographer, when examining his pictures, discovers things he cannot discern with his bare eyes.” Wrede thus finds himself in the best tradition of photographic curiosity without using the camera´s eye in a voyeuristic way.

The remark that he therewith created a monument to 12 little birds may sound much too pompous or too sentimental. I nevertheless would like to close with it.

Muenster, November 27th, 1994

Manfred Schneckenburger

Die Vögel stehen in der Luft und schreien
Epitaph für 12 kleine Vögel von Manfred Schneckenburger

Manfred Schneckenburger

Die Vögel stehen in der Luft und schreien

Epitaph für 12 kleine Vögel

Jahrelang hat Thomas Wrede den Wewerka-Pavillon am Aa-See in Münster fotografiert. Jahrelang hielt seine Kamera in dieser großen Glasvitrine die Arbeiten anderer Künstler fest. Er umrundete sie zu jeder Tageszeit, bei jedem Licht. Immer wieder auf der Suche nach der optimalen Einstellung. Manchmal fiel ihm ein toter oder verletzter Vogel neben den Scheiben auf. Sonst nichts. Bis ihm eines Tages auf dem Glas ein weißer Schatten im Gegenlicht vor Augen kam, eine geringe Spur aus Staub, winzige Reste von Fett, Sekret, Blut, Federn - ein kaum sichtbarer Hauch ohne Form und Kontur. Im hellen Licht gab der Staub Schrunden und Fetzen frei. Die Sonne zeichnete eine grausame Miniatur auf das Glas.

Wrede mußte sehr genau hinsehen, um zuerkennen, daß hier ein Sekundenbruchteil, der Aufprall eines Vogels im Flug, zurückgeblieben war. Aus diesen Beobachtungen gingen 12 Bilder hervor, die weit mehr sind als bloße Aufnahmen: Das Sichtbarmachen eines Augenblicks, der zum Zeitpunkt der Aufnahme längst vorüber war, dient das stille, unspektakuläre Überbleibsel eines abrupten, oft tödlichen Schrecks. Es liegt im Wesen der Fotografie, Sekundenbruchteile ins Bild zu bannen. Die großen frühen Fotografen des 19. Jahrhunderts sahen im Foto wörtlich einen "Abdruck" der Natur. Wrede war, bei aller Einfühlung in alltägliche Tiertragödie, fasziniert von dieser hauchzarten Variation über einen Geburtsmythos der Fotografie. In seinen Fotos liegt der entscheidende Augenblick lange vor dem Zugriff des Kameraauges. Das Momenthafte, das Fotografische - der "Abdruck" - ist so verdoppelt, wenn Sie wollen: potenziert. Das Foto betont diese mediale Genauigkeit.

Aber zugleich beginnt ein fast magischer Prozeß, der weiter reicht als die achtfache Vergrößerung. Aus der flüchtigen ins Transparente aufgelösten Spur entsteht ein Bild der gefährlichen Berührung und gewinnt eine bestürzende Gegenwart. Ich weiß nicht, mit welchen Mitteln Wrede dies - ohne chemografische Manipulation - erreicht hat. Wie er die Vogelkörper, ihre Bewegung, ihre Dynamik, Ballung, Krümmung förmlich rekonstruiert hat. Wie ein körperloses Phantom plötzlich körperlich wird und doch ganz immateriell bleibt. Wie eine gequälte, verletzliche und übergroße Erinnerung leibhaftig als leuchtende Vision vor einem schwarzen, kosmischen Grund aufscheint.

Jedes Foto ist ein unsentimentales Memento. Ein lautloser Schrei, der dem Fond behutsam, fast zärtlich eingeschrieben ist. Jedes Foto besitzt eine eigene Expressivität, weit über das Dokumentarische hinaus. Der nächtige Grund gibt dem tödlichen Augenblick Gewicht, Drama, Steigerung, fast Monumentalität.

Der schreckliche Moment erscheint rekonstruiert, aber auch auf eigenartige Weise überwunden. Das Resultat entfernt sich von der sensationellen Fixierung einer Tierkatastrophe. Geht es zu weit, ein Epitaph für 12 tote Vögel, die im Bild auferstehen, zu assoziieren? Ich sagte schon, daß mich Wredes Arbeit an den Traum der frühen Fotografen erinnert, die Natur zur Selbstdarstellung zu bringen. Fast alle Pioniere von Niêpce bin Henry Fox Talbot hielten an der Idee eines naturmimetischen Verfahrens fest. Niêpce: "Die Natur selbst hinterläßt einen Abdruck auf der Platte." - er schlug dafür den Begriff "Physautotypie", d.h. Selbstabdruck der Körper vor. Die Plattenkamera des vorigen Jahrhunderts sollte festhalten, was sich beim direkten Körperabdruck abzeichnen würde: mehr, als das Auge sieht. Diese Strategie des Abdrucks prägt die Fotografie des 19. Jahrhunderts, so wie die Strategien der Vergrößerung die Fotografie unseres Jahrhunderts prägen. In der Arbeit von Thomas Wrede ist beides essentiell, beides künstlerisch umgesetzt: Abdruck und Vergrößerung, die den Abdruck erst lesbar macht. Noch einmal der große Fox Talbot in seinem Buch "The Pencil of Nature" von 1844: "Einen Zauber der Fotografie macht der Umstand aus, daß der Fotograf bei der Überprüfung seiner Bilder Dinge entdeckt, die er mit dem Auge gar nicht wahrnimmt" Wrede befindet sich also in der besten Tradition fotografische Neugier, ohne daß er das Kameraauge voyeuristisch nutzt.

Die Bemerkung, daß er damit 12 kleinen Vögeln ein Denkmal gesetzt hat, klingt viel zu pompös oder zu sentimental. Ich stelle sie dennoch an den Schluß.

Manfred Schneckenburger: Epitaph für 12 kleine Vögel. Überarbeitete Eröffnungsrede vom 27.11.1994,
in: Licht, Botho-Graef-Kunstpreis der Stadt Jena 1998

Thomas Wrede:  Anywhere
Margret Uhrmeister, Galerie Wagner + Partner, Berlin

Margret Uhrmeister, Galerie Wagner + Partner, Berlin

Thomas Wrede:  Anywhere

Ruhe, Schönheit  und stetige Erneuerung: das Wunder der Natur. Wir träumen  von Reisen, von der einsamen Insel oder einem Refugium auf dem Land. Genährt durch den Wunsch, die Präsenz der Zivilisation abzuschütteln,  empfinden wir eine große Sehnsucht nach Natur.

Die Erfüllung dieser Träume ist voller Widersprüche und treibt sonderbare Blüten.  In zahlreichen Fotoserien der letzten Jahre hinterfragt der Künstler Thomas Wrede unsere Idee von Landschaft und deren Abbildung. So dokumentierte er  in der Serie „Domestic Landscapes“ Fototapeten in deutschen Haushalten, in denen die heimeligen Möbel mit den reproduzierten Traumlandschaften verschmelzen. In „Magic Worlds“, einer Fotoserie über Vergnügungs- und Freizeitparks, die vielfach ausgezeichnet wurde, zeigt Wrede großangelegte Naturkopien aus Holz und Pappe, die den Besuchern Naturerlebnisse suggerieren sollen.

Immer wieder beschäftigt sich Thomas Wrede mit der konstruierten Realität, ihren Wahrnehmungsebenen und Assoziationen und greift damit ein großes Thema der Fotografie auf: die Frage nach der Macht des fotografischen Abbildes.

In seiner Serie „Seascapes“ fängt er in der Tradition der romantischen Landschaftsbilder Licht und Weite ein, konfrontiert mit den Betrachter mit seinen inneren Sehnsuchtsbildern.

Die aktuelle Serie „Real Landscapes“ führt all diese Aspekte beeindruckend zusammen. Auch diese Arbeiten irritieren und provozieren ohne zu bewerten. Im Gegenteil,  sie eröffnen uns einen neuen Reflektionshorizont. Wir sehen einsame Häuser, Siedlungen , Baustellen oder Campingwagen in atemberaubenden Landschaften, deren Konturen vom Licht gezeichnet werden. Die Landschaft wirkt in der Übersichtsaufnahme groß und weit,  wie klein und verletzlich erscheinen da die Häuser. Fast bedrohlich erscheint die Naturgewalt der Berge.

Erst der zweite Blick enthüllt die Inszenierung des Künstlers. Hier wurden kleine Modelle in reale Landschaft platziert. Noch während das Auge zwischen Mikro und Makroebene hin und her pendelt, drängt sich dem Betrachter eine Erkenntnis auf. Der Mensch selbst ist das Paradoxon, er selbst kontaminiert die Landschaft. Die Erfüllung der Sehnsucht nach der unberührten Natur bleibt ein Traum. 

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